Die Art und Weise der Flucht

Im Winter 1944 fingen die ersten großen Flüchtlingstrecks an. Dieser Winter war besonders hart und früh hereingebrochen. Millionen Deutsche flohen unter diesen Bedingungen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern. Durch den Krieg gab es keine Zugverbindungen und nur die Wehrmacht besaß Kraftfahrzeuge und Motorräder. Die Menschen fliehen zu Fuß, mit Handwagen oder Pferdefuhrwerken in das westliche Reichsgebiet. Alte Männer und Frauen sitzen wenig geschützt vor dem eisigen Winter auf den Wagen, Mütter schieben kilometerweit Kinderwagen mit Kleinkindern. Es gibt keine medizinische Versorgung, keine Lebensmittel und kaum Trinkwasser. Säuglinge und Kleinkinder sind die ersten Opfer. Sie fallen der Kälte zum Opfer oder sie verhungern. Auch alte, kranke und schwache Menschen haben nur geringe Überlebenschancen. Kleidung und „Fluchtausrüstung“ sind denkbar ungeeignet. Viele Flüchtlinge tragen unhandliche, schwere Koffer, die Wenigsten verfügen über einen Rucksack.

Die Menschen fliehen oft unkontrolliert, in wilder Panik und im letzten Moment. Es bleibt ihnen kaum Zeit, an das Nötigste zu denken. Viele Fluchtwillige werden zudem von NS-hörigen Kreis- und Gauleitern mit Durchhalteparolen zu lange am Verlassen ihrer Heimat gehindert.

Millionen Menschen fliehen auf einen Schlag nach Westdeutschland. Doch sie können, von den Strapazen der Flucht geschwächt, nur wenige Kilometer am Tag zurücklegen. Die russische Front dringt hingegen täglich 50 bis 70 Kilometer tief in das Reichsinnere vor. Die schnell vorrückende Rote Armee überrollt buchstäblich die Flüchtlingstrecks, die nicht schnell genug ausweichen können. Panzer schießen in die Wagen, russische Tiefflieger beschießen die Flüchtlingskolonnen. Längst wird zwischen feindlichen Soldaten und der Zivilbevölkerung kein Unterschied mehr gemacht. Wer von den russischen Soldaten eingeholt wird, dem drohen Misshandlung, Vergewaltigung und Ermordung. Aufgegriffene Männer, Jugendliche und Kriegsgefangene werden zu Hunderttausenden nach Russland deportiert.

Ausschnitt Tagebuch

Tagebuch von Hedwig Langer 1946

Die Art und Weise der Flucht 4
Die Art und Weise der Flucht 5

(Originalübersetzung Tagebuch Hedwig Langer)

„Russische Panzerspitzen in Panzerfeld am19.02.45. Unser Haus Schloßbergstraße 17 wurde von den Russen überfallen. Gertrud wurde am 03.03 verschleppt und der Vater Max Langer kam am 05.03 nicht mehr vom Dienst zurück. Dann lebten wir beide, Gisela und ich, außerdem Großmutter, Tante Herte mit Sigfried und Ursula und Herters mit den Russen bis zum 30.03 unter einem Dache. Nun wurden wir über den Bober getrieben und lebten zuletzt im Nauenburg bis 30.04. Dann wurde die Burberbrücke frei. Großmutter, die wir krank in N. trafen brachten wir im Handwagen nach S. zurück. Unser Haus war noch von den Russen besetzt. Wir mussten noch bis zum 13.05 nach Maschekeststraße ziehen. Dann konnten wir zurück. Machten Ordnung so gut es ging, bebauten den Garten. Am 17.06 kam unerwartet Gertrud, die geflüchtet war. Dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, warfen uns die Polen heraus. Nachdem vorher alle Wagen weggenommen waren. Damit wir nichts mitnehmen konnten. Gertrud und ich hatten je einen Handwagen, den wir versteckt gehalten hatten und Gisela, die krank war (d.h. vergewaltigt worden war ) im Kinderwagen. Das war am 23.06.45. Nun wurden wir bis Forst getrieben. – unserem Schicksal überlassen. Am 28.06 landeten wir in Munch-Hofe, bei Lieberose. Dort nahm uns der Bürgermeister Schögel auf. Gertrud arbeitete im Sommer bei ihm in der Landwirtschaft. Gisela und ich halfen so gut es ging wo Hilfe gebraucht wurde. Wir forschten unterdessen nach Vater, Günter, Gerhard, Großmutter. Immer vergebens. Da plötzlich, am 01.08 stand Gerhard vor uns. Er war aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen und blieb bis zum 10.08 bei uns. Seit dem 25.08 ist er in Osterholz Scharmbeck bei Bremen als Telegrafen-Bauhandwerker. Am 18.Oktober kam von Erika eine Nachricht, dass Günther mit einem Kameraden Anfang Juli aus dem Lager Andernod entlassen worden ist. Wir haben aber bis heute noch keine Nachricht von ihm. Ende November war ich mit Gisela in Cottbus wo wir erfuhren, dass Großmutter in Forst bleiben sollte. Nach Münchenhofe machte sich Gertrud gleich auf sie zu suchen. Traf sie aber nicht mehr lebend an. Sie war Anfang 45 im Altersheim Forst im Alter von 83 Jahren gestorben. Nun fehlten nur noch Vater und Günther. Am 20. Januar ging ich abermals die Strecke von 32 km nach Cottbus und wieder brachte ich eine Botschaft mit nach Hause. Die Gewissheit, dass wir Vater nicht wiedersehen werden . Von dem Transport von 500 Mann sind nur drei zurückgekehrt, davon blieben noch zwei im Lazarett zu Frankfurt krank zurück. Der letzte von den 500 ist der Stellwerkmeister Wilhelm Schmidt aus Sommerfeld. Er war noch zuletzt mit Max zusammen. Hat ihn auch beerdigt. Nach seinen Erzählungen besteht kein Zweifel mehr. Max ist Anfang September an der Ruhr in der Steppe Kasachstan am Kaspischen Meer gestorben, nachdem er im Juli dieselbe Krankheit gut überstanden hatte und bis zuletzt fest glaubte, die Heimat wiederzusehen. Eine Beruhigung ist es mir, dass er nicht erfahren hat wie es uns ergangen ist. Am 1. März erhielt Erika die erste Nachricht von Günther und am 29.04.1946 bekam ich die erste persönliche Post von ihm. Er ist in Südfrankreich in Gefangenschaft.“

Hedwig Langer

Während einige der Flüchtlinge Deutsche waren, welche in den besetzten Ostgebieten im Laufe des zweiten Weltkrieges dort angesiedelt wurden, waren auch viele der Vertriebenen Menschen die schon Jahrzehnte lang in Osteuropa lebten wie die Siebenbürgersachsen oder die Donauschwaben. Diese wurden meist aus ideologischen Gründen vertrieben.

Die Art und Weise der Flucht 6
Karte von der Fluchtbewegung

Quellen

  1. Tagebuch Hedwig Langer
  2. Stadtarchiv (Geschichtswerkstatt Sonderheft: Achim vor 60 Jahren)
  3. www.hdg.de/lemo/kapitel/nachkriegsjahre/alltag/flucht-und-vertreibung.html
  4. (Daniel,Ole,Gaby,Jakob,Niklas,Elisa, 11. Klasse Geschichtskurs Dr. Christian Plath, Gymnasium am Markt, Achim, 2015)