Leben in der NS Zeit – eine Einführung

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Bertold Brecht, „An die Nachgeborenen“ ¹

Am 8. Mai 2020 war das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur 75 Jahre her. Wenn wir je 25 Jahre für eine Generation nehmen, liegen, zwischen dem Beginn der Nazi-Herrschaft am 30. Januar 1933, der bedingungslosen Kapitulation eines weitgehend zerstörten Landes 1945 und heute drei Generationen.

Die moderne Geschichtsschreibung hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Unmenge historischer Zeugnisse, Dokumente, Bilder, Ton- und Filmmaterial, Zeitzeugeninterviews erhoben, ausgewertet und für die Nachwelt erhalten. Zum Teil heftige Diskussionen über Anpassung und Kollektivschuld der Deutschen, das unmenschliche KZ-System, den Holocaust, der erbitterte Totalitarismus- Diskurs („braun = rot“), die kritische Wehrmachtsausstellung, die das Bild einer vorgeblich „sauberen“ Wehrmacht gegenüber den SS-Sondereinheiten ins Wanken brachte, auch wenn sie zum Teil fehlerhaft gewesen ist, die Herausarbeitung der vielfachen, menschenverachtenden Säuberungsaktionen deutscher Polizeiregimenter im Osten oder auch die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen sowie die brutale Verfolgung und Vertreibung aus den von sowjetischen Truppen (rück-) eroberten Gebieten im Osten…, von vielen Seiten wurden Nazi-Diktatur und Kriegszeit, ihre Ursachen und schlimmsten Auswüchse betrachtet und dargelegt.

Der Krieg zeitigte so viele Täter und Opfer, teilweise in einer Verkettung beider schwerer Lose, dass wir Nachgeborenen uns wohl fragen mögen: Wie konnte das alles geschehen? Wie war das möglich?

Hier sollen keineswegs Täter und Opfer gleichgesetzt werden. Schuld bleibt Schuld. Und die Frage nach dem individuellen Gewissen und einer Entscheidung, die sich nicht auf den Führereid oder die bloße Ausführung eines Befehls zurückzieht, die es auch gegeben hat, verdient angesichts der vielen Untaten höchste Anerkennung.

Aber für die heutige junge Generation scheint es essentiell, um die scheinbare Selbstverständlichkeit unserer demokratischen Grundordnung, großer individueller Freiheit und staatlicher Absicherung heute wertzuschätzen und gegebenenfalls verteidigen zu können, diesen Fragen genauer nachzugehen, sie den Altvorderen zu stellen, soweit diese noch da sind und sich selbst auf die Spurensuche zu begeben.

Denn nur dann, wenn wir uns auf die Suche machen nach den Gründen der teilweisen Selbstauslieferung der Weimarer demokratischen Ordnung wie der nachfolgenden überwiegenden Anpassung an die Nazi-Diktatur, werden wir zumindest ansatzweise begreifen, wie einer Aushöhlung unserer Rechte und demokratischen Errungenschaften heute, entgegengetreten werden kann… oder gar muss.

Das Ende der Weimarer Republik

Wir wollen nun nicht sämtliche damaligen Rahmenbedingungen und Ereignisse hier aufführen. Das würde wohl auch zu weit führen. Wichtig erscheinen in diesem Zusammenhang allerdings verschiedene Faktoren. Der Niedergang der Wirtschaft nach dem Börsencrash am Schwarzen Freitag 1929, die hohe Arbeitslosigkeit, die teilweise Verelendung und Perspektivlosigkeit in der Bevölkerung, und, was die allgemeine Stimmungslage betraf, die hohen Reparationsforderungen des „Schandfriedens von Versailles“ (Mir sei diese ideologische Formulierung des Friedensvertrages erlaubt, wie die politische Rechte ihn titulierte und Tag für Tag hinausposaunte).

Überhaupt bewegt sich das politische Empfinden weiter Anteile der Bevölkerung zunehmend im Spannungsfeld zwischen der eine Sowjetrepublik fordernden KPD und der rechts- bis rechtsextremen Agitation der NSDAP und DNVP, letztere wesentlich getragen vom mächtigen Hugenberg-Medienkonzern. Ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein war in den Krisenjahren in weiten Teilen der Bevölkerung vorhanden, ein Aspekt, der von den „Rechtsparteien“ immer wieder in den Vordergrund geschoben wurde. Die Zahl derer, die sich aus der demokratischen Auseinandersetzung im Parlament keine Besserung mehr erhofften, wuchs weiter an.

Der altehrwürdige Reichspräsident und frühere Generalstabschef im Ersten Weltkrieg, der Held von Tannenberg, von Hindenburg, war nun keineswegs ein überzeugter Demokrat und ließ erst von Papen und dann von Schleicher mit Präsidialkabinetten am Parlament vorbei regieren. Selbst der letzte gewählte Reichskanzler der Weimarer Koalition, Brüning vom katholischen Zentrum ist kaisertreu, wie er es später in seinen Memoiren offen aussprach. Der Erfolg der Einstellung der horrenden Reparationszahlungen (Konferenz von Lausanne im Sommer 1932), das Brüning hatte erreichen wollen, fiel nach seinem Rücktritt (1931) am 30. Mai 1932 nun seinen Gegnern zu.

Heute, wo wir einer allgegenwärtigen Informationsflut ausgesetzt sind und viele Möglichkeiten haben, diese zu überprüfen, ist eine Gesellschaft schwer vorstellbar, die nicht mal das Fernsehen kannte, wo sich nur Begüterte ein eigenes Radioempfangsgerät leisten konnten und die politisch unterschiedlich gefärbten Zeitungen, das Hörensagen und die beliebten Wochenschauen zur Information dienten. Plakate und Flugblätter, politische Versammlungen, Agitatoren, die durch die Arbeiterviertel zogen und schließlich die marschierenden Kolonnen von rechts und links außen, aber auch der Stahlhelm, der Frontkämpferbund des Ersten Weltkriegs und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, die mit 3,2 Millionen Mitgliedern bis zum Ende der Republik stärkste – republikanische Organisation, standen für die politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit. Das politische Leben fand vielfach auf der Straße statt, zeitweise, vor allem in den Großstädten, mit fast täglich tätlichen Zusammenstößen, Polizeieinsätzen, Verhaftungen, Verletzten und sogar Todesfällen.

Der Weg in die Diktatur

Dies änderte sich mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Nicht nur in Berlin, überall im Deutschen Reich zog die SA mit Fackelmärschen auf, die Ernennung und Hitlers Rede schallten aus den Radioempfängern. Die politisch rechtsnationalen Eliten um von Hindenburg und Hugenberg verfolgten die Strategie, die NSDAP für ihre politischen Ziele einzubinden und zu neutralisieren.

Als in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar der Reichstag brannte, erließ noch am 28. Februar der Reichspräsident die Verordnung zum „Schutz von Volk und Staat“. Die am Morgen des Reichstagsbrandes von Hermann Göring anhand schwarzer Listen veranlassten Verhaftungen und weitere wilde Verschleppungen bekannter politischer Gegner durch die SA, standen für den ersten planmäßigen Terror der neuen Machthaber. Mit der Verordnung wurden die demokratischen Grundrechte außer Kraft gesetzt und die KPD Organisation weitgehend zerschlagen. Bei den Reichstagswahlen vom März 1933 erlangten NSDAP und DNVP eine Mehrheit, die den Weg in die Diktatur ebnete (Im November 1933 konnten die Wähler dann nur noch die NSDAP und ihren „Führer“ bestätigen. Andere Parteien gab es nicht mehr). Am 20. März wurde in Dachau das erste offizielle Konzentrationslager errichtet. Im Mai 1933 wurden die wilden KZs in Preußen, in denen die SAler ihre politischen Gegner herabgewürdigt, gequält und gefoltert hatten, zum Teil aufgelöst, zum Teil in neue Lager überführt. Mitte März 1933 warenin solchen Lagern (SA-Sturmlokalen= Kneipen, Scheunen, in umfunktionierten Gefängnissen und Kellern) rund 100.000 Männer inhaftiert!

In der Folge stabilisierte sich die Nazi-Diktatur durch die Verfolgung politisch Andersdenkender wie die Gleichschaltung einer ganzen Gesellschaft. Die NSDAP wurde Staatspartei, das föderale System beseitigt und der Rechtsstaat ausgehöhlt und mit der Geheimen Staatspolizei (GeStaPo) die gefürchtete politische Polizei aufgebaut. 1934 wurden im so genannten Röhm-Putsch die aufmüpfige SA-Führung und weitere politisch einflussreiche Gegner (Kurt von Schleicher, Ferdinand von Bredow) von der SS ermordet. In der Folge übernahm die SS die Konzentrationslager und der Reichsführer SS Heinrich Himmler wurde zugleich oberster Polizeichef. Der SS-Staat entstand. Nach dem Tod des greisen Reichspräsidenten von Hindenburgs, vereinigte Hitler die Staatsorgane Reichskanzler und Reichspräsident auf seine Person.

Gleichschaltung bedeutete, dass die ganze Gesellschaft sozial, kulturell, im Arbeitsleben, wie mit den jetzt nicht mehr unabhängigen Vereinen und Organisationen zusammengefasst und vereinheitlicht war. Jede und jeder, der sich diesem hierarchisch durchorganisierten Leben entziehen wollte, fiel auf und lief Gefahr, gemaßregelt, verhaftet, streng bestraft zu werden. In den Organisationen, den Betrieben, selbst in den Mehrfamilienhäusern, wo nach und nach so genannte Blockleiter als Hauswarte eingesetzt wurden, war man nicht mehr sicher, wenn man eine andere, abweichende Meinung äußerte. Selbst vor den eigenen Kindern, die ab 1936 in die Jugendorganisationen der Nazis zwangsverpflichtet wurden, mussten sich die Erwachsenen in Acht nehmen.

Der Druck auf nicht opportune Teile der Bevölkerung wuchs. Mit den Deutschen Christen gaben evangelikale Kräfte in der evangelischen Kirche den Ton an. Mit dem Reichskonkordat 1934 versuchte der Vatikan die katholische Kirche in Deutschland zu schützen und gab damit doch zugleich den eigenen Einfluss weitgehend auf. Die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung wurde – begleitet von Übergriffen wie dem Boykott jüdischer Geschäfte 1933, der „Säuberung“ im Beamtenapparat, in der Lehrerschaft, den Hochschulen und bei den Kulturschaffenden -, mit den Nürnberger Rassegesetzen 1935 juristisch legitimiert. 1936 verschwand das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ für die Dauer der grandios organisierten Olympischen Spiele vorübergehend aus den öffentlichen Auslagen in Berlin, als das Unrechtsregime der Welt erfolgreich eine janusköpfig trügerische Friedfertigkeit und Weltoffenheit vorspiegelte. 1938 in der Reichspogromnacht durften die SA-Verbände staatlich organisiert erneut öffentlich die jüdischen Mitbürger drangsalieren, berauben und in KZs verschleppen. Nach der Verbrennung tausender Bücher unliebsamer Autoren 1934, die bei der „Reinigung“ der Buchläden und Leihbibliotheken zusammengeraubt wurden, brannten 1938 überall im Deutschen Reich die jüdischen Gebetshäuser.

Arbeitsbeschaffung, eine der wirtschaftspolitischen Maßnahme noch aus der Weimarer Republik, wurde mit der Dienstpflicht und dem Reichsarbeitsdienst angeordnet (u. a. zur Urbarmachung weiter Moorflächen des Emslandes. Die neu entstehenden Lager wurden später vielfach für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus den eroberten Gebieten genutzt). Der Bau der kriegswichtigen Autobahnen wurde vorangetrieben, aber auf den gebotenen Einsatz von Baumaschinen bewusst weitgehend verzichtet, um Tausende Arbeiter mit ihrer Arbeitskraft bei geringem Lohn in Beschäftigung zu halten, die Arbeitslosenzahlen zu senken und das Bild eines „schaffenden Deutschlands“ zu vermitteln. Außenpolitisch war der „Führer“ zunächst erfolgreich, was unter anderem auf die Uneinigkeit der Versailler Vertragsstaaten Großbritannien, Frankreich und Italien zurückgeführt werden kann. In einer Volksabstimmung wurde das Saarland, das unter Verwaltung des Völkerbundes stand, wieder Teil des Deutschen Reichs, Hitler führte die allgemeine Wehrpflicht ein (1935), ein gezielter Verstoß gegen den Friedensvertrag, und ließ das Rheinland mit Reichswehreinheiten besetzen (1936) und wieder ins Reichsgebiet eingliedern. Nach dem Münchner Abkommen 1938, rollten deutsche Panzer auf tschechisches Staatsgebiet, das Sudetenland und Österreich wurden ins Deutsche Reich eingegliedert.

Die Wirtschaft war längst auf Kriegsproduktion umgestellt. Deutschland hatte mit Polen 1934 einen Nichtangriffs- und Verständigungspakt geschlossen. Nachdem die polnische Regierung es abgelehnt hatte, als Aufmarschgebiet für deutsche Truppen im Kampf gegen die Sowjetunion zur Verfügung zu stehen, schlossen Deutschland und die Sowjetunion 1939 einen Nichtangriffspakt. In einem Geheimprotokoll wurde die Aufteilung Polens vereinbart.

Hitlers Angriffskrieg

Im Frühjahr 1939 war Hitler-Deutschland finanziell am Ende. Die jüdische Bevölkerung war bereits weitgehend ausgepresst, die Goldreserven der österreichischen Nationalbank längst vereinnahmt, nur der Krieg, die Eroberung weiterer Goldreserven des Auslandes, von Sachwerten und Rohstoffen versprachen dem Regime Abhilfe. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff auf Polen.

Die Medien in Deutschland waren längst gleichgeschaltet. Goebbels, das Sprachrohr Hitlers fungierte als oberster Zensor. Die vermeintlichen Erfolge des Nationalsozialismus wurden groß propagiert und böse garniert mit der Hetze gegen vermeintliche Gegner im Ausland wie das Judentum im Allgemeinen.

Die meisten Deutschen hatten sich zu diesem Zeitpunkt mit dem NS-System arrangiert, viele pflegten das kleine, private Glück und sahen über das Unrecht und die Gräueltaten hinweg, wenn sie dieser gewahr werden.

Der langfristig geplante Angriff auf Polen am 1. September 1939 traf viele Deutsche überraschend. Eine Kriegsbegeisterung wurde in den Medien inszeniert, aber gerade die Älteren, die den Ersten Weltkrieg miterlebt und diese Notzeiten durchlebt hatten, waren schockiert.

Noch täuschten die ersten militärischen Erfolge in den so genannten Blitzkriegen der deutschen Wehrmacht, angesichts der massiven staatlich gesteuerten Propaganda, bei vielen über die Todesanzeigen der gefallenen eigenen Soldaten und die Angst, wie das wohl enden möge, hinweg.

Zudem war Deutschland da längst ein Überwachungsstaat, die Geheime Staatspolizei mit zuletzt 20 000 Polizisten allgegenwärtig, ein Land ertrank förmlich in Uniformen und Militarismus. Statt offener Worte wurden, gerade mit der wachsenden Not der Kriegszeit, Flüsterwitze zum Ventil für Missstände, Sorgen, Angst und Versorgungsmängel.

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.2

Das Lagersystem, die Zwangsdienstverpflichtungen, der bald einsetzende Bombenkrieg auf deutsche Städte, die Nächte in Bunkern und Kellern, die Trupps von ausgemergelten KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern bei Aufräumarbeiten in den Städten, wurden zu alltäglichen Erscheinungen des Krieges in Deutschland. Angst, Sorge um die Familienangehörigen und das tägliche Überleben…, als der Krieg nach Deutschland kam, bestimmten Durchhalten, die Sorge um die Familie und das eigene Überleben und die mehr und mehr verzweifelte Hoffnung auf ein irgendwie gutes Ende den Alltag der meisten Deutschen. Hinzu kamen bei Tausenden die Ungewissheit, wie es den Kindern, die aus den Städten in ferne Landstriche verschickt waren, wie es den Söhnen und Männern an den Kriegsfronten erging.

Der 8. Mai 1945

Die Kapitulation am 8. Mai in einem weiträumig verheerten und zerstörten Land wurde von vielen nicht als Tag der Befreiung, sondern als schmerzhafte Niederlage empfunden. Die Deutschen standen vor den Trümmern ihrer Städte und, soweit sie sich an den Durchhalteparolen festgehalten hatten, ihrer letzten Hoffnungen. Aber ein mörderisches Unrechtssystem, dessen unglaubliche Verbrechen in den Nürnberger Prozessen Rechtsgeschichte schreiben wird, war zu Ende.

Quellen

  1. Bertold Brecht, „An die Nachgeborenen“, Auszug, das Gedicht entstand zwischen 1934 und 1938 im Exil in seinen Svendborger Gedichten und wurde am 15. Juni 1939 in der Weltbühne, Paris, veröffentlicht. Hier zitiert nach: https://www.deutschelyrik.de/an-die-nachgeborenen.html
  2. Martin Niemöller, (geb. 1892, gest. 1984), evangelischer Theologe, führender Vertreter der Bekennenden Kirche, U-Boot Kommandant im 1. WK, 1937 verhaftet, bis Kriegsende im KZ, Widerstandskämpfer und später engagierter Vertreter der Friedensbewegung. Zitat aus: https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_martin_niemoeller_thema_gemeinschaft_zitat_9331.html (13.12.2019)